Jetzt - Über das "Un-Wesen" der Zeit



»Denn das, was ewig und immer besteht, ist nur das Jetzt, ein- und dasselbe Jetzt; nur die Gegenwart allein ist unendlich.«

Erwin Schrödinger


In dem verwunschenen Hein, in dem wir uns einst so unsterblich und bis zur Besinnungslosigkeit liebten, bist du nicht mehr, Geliebtes. Ja, du bist nicht mehr hier! Nur ich, der ich nicht mehr derselbe bin wie einst. Und unser Baum natürlich, der mir nacheifert und reichlich an

Fülle und Alter zugelegt hat.


Auf diese Weise flüchte ich mich in die bittersüße Erinnerung an jene zauberhaften Nächte, in denen ich dich in meinen Gedanken weiterhin halte, dich zart an mich drücke und dir geheime Kosenamen ins Ohr flüstere. So wie damals, als wir unsere Sehnsüchte, Träume und Leidenschaften ohne Hintergedanken miteinander teilten.

 

Doch die Erinnerung daran ist nur ein verzerrter, schwacher Schatten. Ein matter Abglanz dessen, was einmal war. Ein verklingendes Echo jener überirdischen Melodie, die einst mein Herz mit Leben, Freude und Glückseligkeit erfüllte - denn du bist nicht mehr hier!

 

Nun verstehe ich es.

 

Und so tanzen wir, in dem ewig auf- und abschwellenden Rhythmus des Lebens, zeitlosen und zerbrechlichen Schmetterlingen gleich, von einer Gegenwart zur nächsten, ohne auch nur das Geringste davon zu ahnen.

 

Der Übergang von einem „Jetzt“ zum nächsten, erfolgt stets reibungslos, unbemerkt, gleitend - ja, fließend. Ohne einen erkennbaren Anfang, ohne ein definierbares Ende. Die Geburt eines Augenblicks beinhaltet zugleich seinen Untergang und umgekehrt.

 

Dabei existiert jeder gegenwärtige Moment nur in der Abwesenheit zeitlicher Vorstellung. Genauso, wie alles Sein nur in der unmittelbaren Gegenwärtigkeit und somit in der wundervollen Einzigartigkeit dieses einen Augenblicks, erlebt werden kann.

 

Zwischen Geburt und Tod gibt es nur ein einziges, ewiges „Jetzt“, ohne ein „Davor“, „Mittendrin“, oder ein „Danach“. Und obwohl immer unveränderlich und gleich, ähnelt doch kein „Jetzt“ dem nächsten. Das muss auch so sein, denn wie wäre es, wenn jeder gegenwärtige Augenblick stets derselbe wäre?

 

Jahre, Monate, Tage, Stunden und Sekunden sowie alle anderen temporären Taktgeber, sind in Wahrheit nur Halluzinationen unseres linear operierenden Verstandes. Die daraus resultierende Einbildung von Zeit, ist allerhöchstens eine geist- und spukhafte Illusion. Eine, die auf der Theaterbühne unserer mentalen Vorstellung aufgeführt wird.

 

In der Starbesetzung ist stets dieselbe raffinierte Hochstaplerin zu bewundern, die in jedem Akt vortäuscht eine reale Erscheinung zu sein. Eine verschlagene Gauklerin, die es außerhalb dieser Vorführung gar nicht gibt und auch nicht geben darf. Dort wo sie ihre trügerische Hauptrolle spielt, wird es immer einen Anfang, mit einem dazugehörigen Ende und den darin beheimateten Schmerz, geben.

 

Und so ist die Zeit die Vernichterin alles Ewigen, die Zerstörerin alles Lebendigen. Dort aber, wo keine Zeit existiert, kann es folglich nur das belebte „Jetzt“ geben. Ohne Anfang, ohne Ende, dafür mit einer unbegrenzten Vielfalt an Eindrücken und Möglichkeiten, die zwang- und pausenlos, pulsierend und fließend ineinander übergehen. Das ist Leben. Das ist Lebendigkeit, Sein, Fülle, Sinn und Freiheit.

 

Zeit hingegen ist die chronologische Einteilung des gegenwärtigen Lebensstroms, dessen Wesen durch diesen sezierenden Eingriff, in das einengende Korsett eines „Davor“ und „Danach“, gezwängt wird. Die Reduktion der lebendigen Fülle des „Jetzt“ auf ein eindimensionales, lineares Maß des „Vorher“ und „Nachher“, führt zur Negierung des Lebens. Zeit ist die verkopfte Abstraktion des Seins.

 

Sie ist eine seelenlose Diktatorin, die den Fluss des Lebendigen in möglichst skalierbare und reproduzierbare Einheiten zerstückelt. Ihre schärfste Waffe ist der ökonomisierte und wissenschaftlich-verkausalisierte Verstand sowie die auf Erfahrungen und Wertvorstellungen basierenden Erinnerungen an etwas, das einmal war, oder das vielleicht einmal sein könnte, das jedoch im augenblicklichen Moment nicht mehr, oder noch nicht ist und wahrscheinlich auch nie so sein wird.

 

Alles was ist, entfließt zwanglos aus der Unmittelbarkeit des ungeteilten „Jetzt- und So-Seins“, bis es in der fernen Unschärfe der subjektiv empfundenen, so-gewesenen Vergangenheit allmählich verblasst und sich auflöst, während sich das, was noch nicht geworden ist, aus einer möglichen Zukunft heraus, unaufhörlich in das „Jetzt“ hineinentwickelt. Doch das was einmal war, ist nicht mehr, und dass, was möglicherweise einmal werden wird, ist noch nicht geworden und liegt somit im Ungewissen.

 

Im „Jetzt“ existiert weder das Gewordene (Vergangenheit), noch das Ungewordene (Zukunft).

 

Im „Jetzt“ gibt es nur das Sein, in dem alles so ist, wie es ist. Der Ausgangspunkt und Ursprung jedoch, ist das klare und zeitlose Meer des unmittelbaren, reinen Erlebens. Der Quell allen Seins. Dieser Ozean fließt nicht etwa auf einer Skala von rechts (Vergangenheit) nach links (Zukunft), oder umgekehrt, sondern lotrecht - vertikal, von einem Mittelpunkt zum nächsten! Jetzt! Immer!

 

Das was ist, kann deshalb nur im gegenwärtigen Moment, durch eine damit verbundene „Jetzt-Erfahrung“, erlebt, erfühlt, erdacht, besprochen, errochen, erschmeckt, ertastet, erhört und erahnt werden, wobei das vertikale Spektrum dieser Erfahrungen (angenehm - unangenehm, warm - kalt, hell- dunkel, gut -schlecht, etc.) so vielfältig und individuell ist, wie die Anzahl der zur Wahrnehmung befähigten Lebewesen. Für den einen fühlt sich diese Gegenwart möglicherweise angenehm, für jemand anderen hingegen unerträglich, an.

 

Wir haben diesbezüglich immer die Wahl, denn unsere Energie ("E-Motion") folgt unserer Aufmerksamkeit. Wenn wir unseren Fokus darauf richten, dass das Glas im gegenwärtigen Moment halbleer ist, dann wird sich dieser Mangel für uns auch dementsprechend anfühlen.

 

Wenn wir andererseits fest daran glauben, dass das Glas halbvoll ist, dann werden wir diese Fülle in Übereinstimmung dazu empfinden können.

 

Die Entscheidung jedoch, wie wir etwas bewerten, liegt demnach in jedem gegenwärtigen Augenblick immer bei uns allein und bei niemandem sonst. Aufmerksam und bewusst mit der Gegenwart umzugehen, ist somit Teil unserer Selbstverantwortung. Einer Verantwortung, der wir nicht entrinnen können.   

 

Hier und jetzt, wo du diese Zeilen liest, existiert nur das gegenwärtige, bewertungs- sowie absichtslose, reine Erleben des unmittelbaren Augenblicks - "Wu wei"!

 

Sentio ergo sum!

 

Abseits dieses Erlebnisses lauert die Einteilung und Bewertung des Erlebten innerhalb festgelegter Zeit- und Wertmaßstäbe und somit Vergänglichkeit und Tod.

 

Cogito ergo moriar!

 

Im Verlauf dieser Bemessung, wird das „So-Erlebte“ bewertet und in Form von neuronalen Signaturen als Erfahrung im Gehirn abgespeichert. Wie unsichtbarer, flüchtiger Wasserdampf, der aus dem Meer des ewigen„Jetzt-Seins“ aufsteigt und zunächst zu Tröpfchen kondensiert, um sich im weiteren Materialisierungsprozess alsbald zu starren Eiskristallen zu verdichten, gleichen Erlebnisse geronnenen Erfahrungen, die durch entsprechende Verknüpfungen von Nervenzellen, samt der dazugehörigen Biochemie, auf physischer Ebene repräsentiert werden.

 

In den verschlungenen Eingeweiden unseres Oberstübchens, verdichtet sich die subjektiv erlebte „Jetzt-Erfahrung“ also zu festen Strukturen, die auf diese Weise als materialisierte Erinnerungsfragmente des einst Erlebten konserviert sind und in einem beliebigen „Jetzt“ willkürlich, oder unwillkürlich, widerbelebt werden können. Allerdings ist eine derart reanimierte Erinnerung nicht mehr vergleichbar mit der Intensität und Tiefe der einstigen, direkten und lebendigen Erfahrung selbst. Sie ist lediglich eine abgeschwächte, subjektiv eingefärbte „Second-Hand-Rekonstruktion“ derselben, die zudem einem ständigen Wandel unterliegt.

 

Dies ist auch schon das wahre Geheimnis des Lebens. Es kann nur im Ozean des einen „Jetzt“ vollständig und in seiner unverfälschten, puren Reinheit, Tiefe und Fülle, erlebt werden. Im Idealfall absichtslos und erwartungsfrei.

 

Deshalb möchte ich nicht mehr nur auf der Oberfläche surfen (obschon das sicher auch einen Heidenspaß machen kann). Lieber möchte ich, wann immer es mir möglich ist, eintauchen in dieses Meer und in den Rausch der zeitlosen Unmittelbarkeit, der in seiner unergründlichen Tiefe wartet. Vertikal und nicht horizontal. Augenblicklich, absichtslos und nicht linear bewertend. Jetzt und nicht gestern, oder morgen. Hier, genießend, achtsam und ganz bewusst!

 

Denn an diesem zeitlosen Ort, werde ich mir selbst aber auch dir begegnen.

 

Deshalb muss ich dich loslassen, Geliebtes und mich aus der Umarmung vergangener Erinnerungen lösen. So sehr es mich schmerzt und innerlich zerreißt, doch ich muss leben. Ich möchte lebendig sein, fühlen und fliegen wie ein Schmetterling. Ohne Bedauern und Wehmut. Frei, von einem „Jetzt“ zum nächsten. Solange, bis wir uns in der zeitlosen Ewigkeit wieder "ver-Ein-en" und gemeinsam durch die Schöpfung fliegen. 



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